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Fortsetzung der vorigen Teils des Märchens.

So machte sie sich auf den Weg. In der Stadt gab es eine entfernte Verwandte, die sie aufsuchen konnte. 

 

Diese Verwandte hatte ein schönes Haus und sogar einen oder zwei Bedienstete. “Geh zur ihr“, riet Aiko’s Mutter. „Vielleicht hat sie auch eine Stelle für dich oder bietet dir ein Dach über dem Kopf, damit du nicht auf der Straße schlafen musst“.

Aiko ging den Bach entlang und folgte dann der Landstraße. Sie bewunderte Felder und Blumen am Rande, sie hörte Vögel singen und sah die weißen Wolken am blauen Himmel. Langsam löste sich die klebrige, graue Wolke in ihrem Inneren auf und Aiko schöpfte wieder Hoffnung. Sie konnte sogar mit den Vögeln leise mitsingen. So gingen drei Tage vorbei und an einem verschlafenen Morgen kam sie in die Stadt, wo sie nach ihren Verwandten suchte.

Sie fragte verschiedene Leute an der Straße, wo sie die gute Dame finden könnte – aber niemand konnte helfen. Und so wanderte sie durch die Stadt. Zuerst war sie voller Hoffnung und Vorfreude gewesen, doch langsam wurde sie müde und hungrig und dachte, sie würde ihre Verwandte nie finden. Sie kam in eine Straße, die ganz anders war, als die Straßen, die sie bis jetzt gesehen hat. Manche Häuser hatte Türen, die halboffen standen und man hörte Musik und das Lachen herausklingen. Es roch nach köstlichem Essen und es kam Aiko vor, als ob sie jemanden Koto spielen hörte – ein Musikinstrument, das sie immer an eine Brücke erinnerte, an dem die Seile wie Wasserstrahlen in einem Bach verliefen.

Aiko setzte sich auf die Stufe eines Hauses und lauschte der Musik. Sie war so fasziniert vom Klang, dass sie alles andere um sich herum vergaß. Sie träumte von der Zeit zu Hause, als sie am Hügel sangen und spielte mit Takeru neben einen Brunnen unter dem Katsura-Baum.

„Takeru!“, rief sie, als sie aus ihrem Traum erwachte Gerade in jenem Moment kam ein Mann bei der Tür heraus. Eine Dame verabschiedete sich von ihm und nannte ihm bei seinem Namen. Aiko schaute auf, denn der Mann hieß ebenfalls Takeru. Aber es war nicht der Takeru, den sie kannte. Tränen kamen ihr in die Augen und sie fing zu weinen an. Da bemerkten die Frau und der Mann, dass ein kleines, zartes, fast unsichtbares Wesen an der Haustreppe saß.

Die gute Dame fragte Aiko, ob sie in das Haus kommen und etwas essen und trinken wollte. Aiko war sehr froh über dieses Angebot, immerhin hatte sie schon seit zwei Tagen nichts Richtiges gegessen und war ganz müde vom Gehen, Suchen und Hoffen. Sie aß eine kleine Schale Reis und schlief ein.

Am nächsten Morgen erzählte Aiko den Bewohnern ihre Geschichte. Ihre Erzählung, ihr Wesen und die Art, wie sie ihre Geschichte erzählte, beeindruckten die Gastgeber sehr. Sie hatten versucht Aiko zu trösten und gaben ihr allerlei Dinge. Eine Bento-box, ein Furoshiki-Tuch und einen alten Kimono mit dem schönen Obi-Gurt dazu. Aiko war überglücklich, so viel Güte hat sie sich nicht erwartet und umso größer war nun die Freude. 

Aiko bemerkte, dass die Bewohner sich seltsam bewegten. Sie wusste nicht, dass sie sich in einer Schule befand. Es war eine sehr besondere Schule, denn die Schüler waren blind und sie hatten nicht die Buchstaben und Zahlen gelernt, sondern Massagegriffe.

Es war eine Anma-Schule. Hierher kamen blinde Leute aus ganz Japan, um einen Beruf zu erlernen.  Aiko fragte sich, welche andere Berufe Beeinträchtigte Menschen wohl erlernen konnten? Sie konnte nicht am Feld oder im Wald arbeiten, und auch keine Stoffe weben oder diese färben. Viele Berufe waren den blinden Menschen nicht zugänglich, bis auf die Anma-Massage. Bei Massagen konnte man sich vollkommen auf Fingerempfindungen verlassen und sich so viel besser konzentrieren. Sehen wäre sogar hinderlich gewesen. Anma-Masseure waren hoch angesehene Menschen, die fast wie Ärzte geschätzt wurden.

Aiko fragte, ob sie bei den Masseuren bleiben konnte, um ihnen behilflich zu sein. Sie konnte Tee machen, ohne immer aufpassen zu müssen, dass sie sich verbrühte oder sie konnte den anderen in die Stadt begleiten, wenn sie etwas zu erledigen hatten. Aiko kam den Bewohnern des Hauses sympathisch vor. Ihre Stimme war zart und sie hatte einen leisen Schritt.

Aiko hoffte, dass sich bei ihren Ausflügen in die Stadt einmal die Gelegenheit bieten würde etwas über Takeru in Erfahrung zu bringen. Sie wusste nicht viel über ihn, nur, dass er bei einem Sumo-Meister in der Lehre war und ein sehr lieber Junge war, den sie von ganzem Herzen wiedersehen wollte.

Sie blieb im Anma-Haus und fühlte sich wohl. Die Menschen waren nett zur ihr und dankbar für ihre Hilfe. Sie war sehr wissbegierig und lernte auch einige Massagegriffe kennen. Es ergab sich immer wieder die Möglichkeit den Masseuren bei der Arbeit zuzusehen, aber nur in der Zeit, in der sie keine Erledigungen hatte. Die Abende verliefen sehr ruhig. Viele Studenten und Masseure bemühten sich um neue Massagepraktiken oder massierten sich gegenseitig, erfanden neue Griffe und deren Kombinationen. Manche hatten Brettspiele gespielt und andere schliefen einfach. Für Aiko war es faszinierend zuzuschauen, wie sich die Finger, Ellenbogen und der ganze Körper der Masseure bewegte. Wenn sie massierten sah es aus wie ein wunderbarer Tanz. Es war so schön, dass sie stundenlang nur zusehen könnte. Manchmal sah es so aus, als ob das Wasser in einem Bach ganz ruhig fließen würde. Ein anderes Mal wirkten die Bewegungen wie ein Sturm, der alle Wolken am Himmel zusammentrieb.

Im Anma-Haus konnte Aiko bald Freundschaften schließen. Am besten verstand sie sich mit einem blinden Mädchen namens Yoshiko. Sie sprachen oft über ihre Dörfer, Spiele und den Vogelgesang. Yoshiko war von Geburt an blind und kannte die Welt nur als Schwarzen Fleck vor ihren Augen. Sie hörte die Stimmen, spürte die Umgebung, ohne jemals den Tag oder die Nacht gesehen zu haben. Sie spürte zwar den Wind, aber hatte niemals gesehen, wie sich der Bambus bei einer Windböe bog. Sie wusste, was Regen war, aber sie hatte nie die Wolken am Himmel gesehen und auch die Vögel waren für sie nur durch deren Stimmen und Federn bekannt.

Die Zeit ging vorbei und Aiko wurde immer größer. Auch Yoshiko wuchs weiter und bald wurden sie junge Damen. Yoshiko war schon ganz geschickt beim Massieren, sodass die Schulbesitzerin sich überlegte, ob sie Yoshiko zur einer der Massagestudios schicken sollte. Dort könnte Yoshiko arbeiten und lernen für sich selbst zu sorgen.

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